Sexualität ist lernbar

von Helga Thauer
Foto: Kim Hoss, Grafik: Daniel Reyle

Wir nehmen an, sexuelle Lust sei etwas ganz Natürliches. Spätestens mit Beginn der Pubertät erwacht sie mit voller Kraft. Dann braucht es nur noch den/die passende*n Partner*in und wir genießen ein erfülltes Sexualleben bis zum Ende unserer Tage. Soweit die Idealvorstellung. Tatsächlich sieht es in Deutschlands Schlafzimmern meist anders aus: je älter die Beziehung, desto größer die Wahrscheinlichkeit für eine Flaute im Bett. Wo geht das Lustgefühl hin? Und wie kommt es wieder? Darüber hat MINA mit Julia Henchen gesprochen. Die Sexualpädagogin betreibt eine Praxis für psychosoziale Beratung in der Nähe von Pforzheim und hat sich auf sexuelle Bildung und Aufklärung spezialisiert.

In Ihrer Praxis bieten Sie Einzel- und Paarberatungen an. Wer ruft eher bei Ihnen an, Männer oder Frauen?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten, da es auf die Themen ankommt. Generell beobachte ich aber, dass sich Frauen eher melden, wenn es darum geht, in einer Beziehung auf emotionaler Ebene etwas zu verändern. Männer kommen auf mich zu, wenn sie unter körperlichen Funktionsstörungen wie Erektionsproblemen oder frühzeitigem Samenerguss leiden. Frauen fragen seltener so konkret nach sexuellen Themen.

Das klingt fast klischeehaft: Frauen kümmern sich eher um die Beziehung und Männer zuerst um sich selbst?

Für mich ist das eher ein Zeichen für das strukturelle Machtgefälle in der Gesellschaft als ein Klischee. Das alte Patriachat hat auch heute noch nicht ausgedient. Männer haben – vielleicht durch diese Prägung – Defizite in der Emotionalität. Frauen fangen das häufig auf und kümmern sich in der Beziehung auch um die Emotionen der Männer. Es gibt den Begriff der „toxischen Männlichkeit“, der Frauen mit einem untergeordneten Rollenverständnis verknüpft. Das sollten wir gesellschaftlich im Blick behalten.

Sollten Frauen und Männer heutzutage nicht aufgeklärt genug sein, um eine Beziehung auf Augenhöhe führen zu können?

Nicht zwangsläufig, aber es kann natürlich helfen, um eine gute Beziehung zu führen. Denn nach meiner Erfahrung ist es nicht immer so. Es ist deshalb mein persönliches Anliegen, hier gegenzusteuern – sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen. Denn gerade beim Thema Sexualität können sich einmal verinnerlichte Glaubenssätze bis ins Alter festsetzen.

Schauen wir uns die Jugendlichen an: Hier erfolgt die Aufklärung bei 40% der Jungs und 17% der Mädchen über Pornos. Das vermittelt natürlich ein völlig verschobenes Bild, was nicht bedeutet, dass Pornos zwangsläufig schlecht sind. In meinen Beratungen und Aufklärungs-Workshops besprechen wir deshalb zunächst, was überhaupt unter Sex verstanden wird. Viele verstehen darunter den penetrierten Akt. Das gilt es zu hinterfragen. Sex kann und ist viel mehr. Pornos können uns das Gefühl geben, dass dieser Akt mindestens eine halbe Stunde dauern sollte. In der Realität dauert die eigentliche Penetration meist deutlich weniger. Die Lubrikation (Anm. d. Red.: Gleitfähigkeit der Vagina) hält in der Regel bis zu fünf Minuten an und ist somit nicht unbedingt für eine 30- bis 40-minütige Penetration ausgelegt. Ein Befeuchtungsgel kann hier Abhilfe schaffen. Was wir also brauchen, wenn wir in puncto Sexualität etwas verbessern möchten, ist das breite Wissen aller Geschlechter über biologischen Fakten und nebenbei bemerkt auch bessere Pornos, wie beispielsweise die Filme von „feuer.zeug“.

Wie nähern sich Jugendliche nun an das Thema Sexualität an?

Fragt man eine Gruppe Jugendlicher, woran man sehen kann, dass ein Junge Lust bekommt, Sex zu haben, hört man schnell ‚Er bekommt eine Erektion.‘ Und bei Mädels? Da kommt erstmal keine Antwort. Viele Menschen wissen nicht, dass es dazu Feuchtigkeit benötigt. Deshalb sage ich grundsätzlich, dass Sex nie Schmerzen verursachen darf – außer, man möchte das. Auch das erste Mal sollte nicht weh tun. Damit ernte ich oft Erstaunen. Doch gerade damit fängt es an. Frauen und Männer lernen, dass Sex weh tun kann und dieses Bild prägt sich ein. Allein das Wort ‚Schamlippen‘ sollte ein No-Go in der deutschen Sprache sein. Wofür sollten Menschen sich schämen? Ich nutze deshalb konsequent das Wort Vulva-Lippen. Geredet wird über derart persönliche Themen eher selten. Stattdessen fragen sich Menschen: ‚Bin ich normal?‘

Ist das Internet eine passende Informationsquelle, um bei solchen Wissenslücken nachzubessern?

Natürlich sind die Informationsangebote im Netz sehr niedrigschwellig und deshalb auch beliebt. Ich selbst nutze meinen Instagram-Kanal ‚Lustfaktor‘, um mit meinen Beiträgen für Aufklärung und Empowerment zu sorgen. Doch ich sehe natürlich auch, dass viele Jugendliche das Internet unreflektiert nutzen. Da wird gegoogelt, aber so gut wie nie die Quelle hinterfragt. Auch hier brauchen wir einen Weckruf: ‚Achtet darauf, was ihr konsumiert!‘

Wenn wir den Blick auf langjährige Beziehungen werfen, warum verabschiedet sich die Lust bei vielen Paaren im Laufe der Zeit?

Das hat viele Faktoren. Ein Ansatz wäre zu schauen, wie Lust überhaupt entsteht. Am Anfang einer Beziehung passiert das vor allem auch, weil es verschiedene hormonelle Abläufe gibt:

Wenn wir uns verlieben, haben wir Glückshormone im Überschuss. Bei Verliebten können wir die gleichen Abläufe beobachten, wie bei Menschen mit Neurosen. Wir sprechen daher von der rosaroten Brille. Dies dient der Arterhaltung. Daher ist häufiger Sex in dieser Phase oft eine Begleiterscheinung, manchmal bis zu dreimal täglich. Mit der Zeit flacht dieser Hormonzustand ab und die Paare denken, es stimme nicht mehr zwischen ihnen. Es kann vorkommen, dass die Beziehung anstrengend wird. Hier kommt wieder unsere romantische Medienwelt ins Spiel, die uns vorgaukelt, dass die wahre Liebe keine Anstrengung benötigt. Aber das stimmt nicht! Beziehung braucht Beziehungsarbeit. Doch Erotik braucht Geheimnisse. Das ist natürlich viel leichter, wenn sich das Paar noch nicht ewig kennt. Je stärker ein Paar zusammenwächst, desto mehr Gemütlichkeit macht sich breit. Es kann dann viel angenehmer sein, miteinander auf dem Sofa zu kuscheln, als Sex zu haben.

Ab einem bestimmten Punkt in der Beziehung passiert Sex also nicht mehr von alleine, sondern erst, wenn wir Energie dafür aufbringen. Wir müssen die Gemütlichkeit überwinden. Das ist ähnlich wie beim Sport. Auch er kostet manchmal Überwindung. Danach sind wir aber manchmal auch froh, dass wir uns aufgerafft haben.

Wenn Sie Frauen einen Rat in Bezug auf ihre Sexualität geben dürften, welcher wäre das?

Mein wichtigster Rat lautet: Schaut Euch an! Nehmt einen Handspiegel und erkundet Eure Vulva. Die eigene Anatomie zu kennen, ist die Grundvoraussetzung dafür, den Körper anzunehmen und so zu lieben, wie er ist.

Eine Vagina ist perfekt dazu gemacht, den Penis zum Orgasmus zu bringen. Andersrum ist das nicht so. Daher denken Menschen manchmal, mit ihrem Körper stimme etwas nicht.
Aber: Sex ist lernbar! Und wenn Sie sich mit Pornos nicht wohlfühlen, gibt es viele andere Möglichkeiten, die sexuelle Fantasie zu aktivieren, zum Beispiel durch erotische Bücher oder Hörgeschichten, die sehr anregend sind. Auch im Rahmen einer Sexualberatung lässt sich Vieles lernen, was zu einem besseren Körpergefühl beiträgt. Damit wird auch wieder die Bahn frei für mehr Lust.

Julia Henchen hat sich nach ihrem Masterstudiengang Psychosoziale Beratung und Gesundheitsförderung auf Paar- und Sexualtherapie spezialisiert. „Ich fand schon immer spannend, wie oder warum sich Menschen verlieben und trennen. Die Defizite unserer sexuellen Aufklärung können manchmal auch in Paarbeziehungen spürbar sein“, meint sie dazu. Bundesweit reist sie zu Workshops oder Vorträgen, um Menschen zu stärken und Aufklärung für unterschiedlichste Zielgruppen zu betreiben. Mehr dazu unter www.julia-henchen.de.

By the way: Schaut unbedingt bei #lustfaktor vorbei. Auf ihrem Instagram-Kanal gibt Julia Henchen sehr gute und wichtige Impulse, sich auf den eigenen Körper einzulassen. Es lohnt sich garantiert.

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